(Wiesbaden, 2. Januar 2017) Aus der PROGRESS-Studie lassen sich keine Handlungsempfehlungen für die Planung neuer Windparks ableiten. Davon ist der Biologe und ABO Wind-Mitarbeiter Dr. Nils Breitbach überzeugt, der die Studie gründlich analysiert und mit den Autoren gesprochen hat. In ähnlicher Weise äußern sich auch Vertreter der Staatlichen Vogelschutzwarte in einer Publikation mit dem Titel: "Hoher Aufwand, vage Resultate". Grundlage der PROGRESS-Studie ist eine Feldforschung: In 46 norddeutschen Windparks wurde nach verunglückten Vögeln gesucht. Ziel war es, Daten zur Kollisionsrate von Vögeln mit Windenergieanlagen im Offenland zu erhalten und daraus Schlussfolgerungen für die Planung abzuleiten.
Für die meisten Vogelarten gibt die Studie Entwarnung. Trotz der bereits intensiven Windkraftnutzung in Norddeutschland sei keine Bestandsgefährdung durch Kollisionen an Windenergieanlagen zu erwarten. Im Fall des Rotmilans reichte die Zahl der gefundenen Schlagopfer nicht aus, um diesbezüglich eine Aussage zu treffen. Für den Mäusebussard konstatieren die Forscher dagegen "Kollisionsraten, die zu einem Bestandsrückgang führen können". Daher regen Autoren der Studie an, die Situation des Mäusebussards genau zu beobachten. Daraus schließen manche Leser, die Art sei in Genehmigungsverfahren für neue Windparks stärker als bisher zu berücksichtigen oder gar als "windkraftsensibel" zu bewerten. Diese Schlussfolgerung ist nach Ansicht Dr. Nils Breitbachs voreilig und nicht durch die Ergebnisse der Studie gedeckt. Während der langwierigen und aufwändigen Feldforschung wurden bei 55 zwölfwöchigen Stichproben an 568 Windenergieanlagen zwölf tote Mäusebussarde gefunden und als Schlagopfer der Windkraftanlagen gewertet. Mittels eines komplexen Prognosemodells rechneten die Forscher diese zwölf gefundenen Vögel hoch und stellten auf dieser Basis die These auf, dass an 12.841 Windenergieanlagen in Norddeutschland im Mittel jährlich 7.865 Mäusebussarde stürben.
Diese Zahl ist hochspekulativ und mit vielen Unsicherheiten behaftet. Offenbar führen viele Annahmen und Schätzungen der Forscher dazu, die von Windkraft für Vögel ausgehenden Gefahren zu überschätzen. So haben die Forscher darauf verzichtet, die zwölf toten Mäusebussarde zu röntgen, zu sezieren oder auf Vergiftungen zu untersuchen, um sicherzustellen, dass sie tatsächlich an den Windkraftanlagen verunglückt sind. Da Windkraftanlagen wegen des Netzanschlusses und der Zuwegung möglichst im Umfeld bestehender Infrastruktur errichtet werden, könnten einige der zwölf Mäusebussarde mit Fahrzeugen kollidiert sein. Unabhängig von Windkraftanlagen lassen sich im Feld einzelne Vogelkadaver finden ─ etwa nach Stürmen, als Opfer anderer Greifvögel oder als Folge der Vogelgrippe. Es ist daher zu vermuten, dass die angenommene Kausalität zu den Windkraftanlagen nicht in allen Fällen zutrifft. Bedingt durch die Hochrechnungsmethodik verfälscht aber schon ein einzelner falsch zugeordneter Vogel die Prognose um hunderte vermeintliche Schlagopfer.
Zur Verfälschung der Hochrechnung hat auch die Annahme der Forscher eines im Jahresverlauf konstanten Kollisionsrisikos beigetragen. Beim tagaktiven Mäusebussard zum Beispiel ist das Risiko, an langen Sommertagen zu verunglücken, naturgemäß viel größer als im Winter. Auch in Zeiten der Balz und der Jungenaufzucht ist der Vogel aktiver und damit auch gefährdeter. Im Winter leben zudem weniger Mäusebussarde in Deutschland, weil einige Exemplare in südliche Gefilde ziehen. Nachvollziehbarerweise haben die Forscher nicht gesucht, wenn die Mais- und Rapspflanzen hoch gewachsen waren. Denn dann wäre es schwerer gewesen, verendete Vögel zuverlässig zu entdecken. In solchen Zeiten jagen Mäusebussarde allerdings kaum im Umfeld der Windkraftanlagen, weil sie Beute dann nur schwer ausfindig machen können. Beim Jagen sind sie aber am ehesten gefährdet. Im Ergebnis haben die Forscher also die Schlagopfer aus Zeiten, zu denen eine Kollision wahrscheinlicher ist, auf Zeiten hochgerechnet, zu denen sie viel unwahrscheinlicher ist. Dann ist es nicht überraschend, dass die prognostizierte Zahl so hoch ist.
Aus weiteren Gründen haben die in Norddeutschland erhobenen Daten für neue Windkraftplanungen wenig Aussagekraft. Im Norden stehen viele ältere und schnell drehende Anlagen mit niedrigeren Türmen zwischen 60 und 90 Metern. Neuere Anlagen dagegen verfügen oft über 140 Meter hohe Türme. Damit sind die Rotoren weiter vom Boden entfernt, was das Schlagrisiko für Vögel vermindert. In der Anfangsphase der Windkraftnutzung waren zudem die Kenntnisse und Auflagen noch nicht so fortgeschritten wie heute. Die mittlerweile erworbene Expertise ermöglicht es, Windparks weitaus umweltverträglicher zu planen und Konflikte durch umfangreiche Voruntersuchungen und bedachte Planung weitgehend zu vermeiden.
Den geringen Nutzwert der PROGRESS-Studie für die Genehmigungspraxis neuer Windparks hat offenbar auch das Bundesamt für Naturschutz (BfN) erkannt. Kathrin Ammermann, Leiterin des BfN-Kompetenzzentrums Erneuerbare Energien und Naturschutz, betonte bei einer Diskussion der Fachagentur Windenergie an Land im November 2016, dass sie aufgrund der Ergebnisse aus der PROGRESS-Studie keinen Handlungsbedarf sehe, da der Mäusebussard aus naturschutzfachlicher Sicht bei der Windkraftplanung wie bisher nicht planungsrelevant sei. Dies wird gestützt durch die Bewertung des Mäusebussards mit Hilfe des vom BfN entwickelten "Mortalitäts-Gefährdungs-Index".
Urta Steinhäuser, verantwortlich für die deutschen Planungsabteilungen bei ABO Wind, wertet das als ermutigendes Signal. "Die bevorstehenden Ausschreibungen der Windkraft in Deutschland sollen die Kosten für die Verbraucher weiter senken. Wenn Genehmigungsbehörden auf Grundlage der vielfältig interpretierbaren Ergebnisse der PROGRESS-Studie nun zum Beispiel Raumnutzungsanalysen für den weit verbreiteten Mäusebussard fordern, würde dieses Ziel eklatant konterkariert."
Alexander Koffka
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